Retrospektive Terayama Shûji
Sterben vor seiner Zeit
Retrospektive Terayama Shûji
Sterben vor seiner Zeit
Am 4.5.2003 jährte sich der 20. Todestag des Autors und Regisseurs TERAYAMA Shûji, dem Wunderkind wie Enfant terrible der japanischen Kultur in den 60er und 70er Jahren. Geboren am 10.12.1935 in der Präfektur Aomori, studierte er Literaturwissenschaften an der Eliteuniversität Waseda in Tôkyô. Bereits 1954 verlieh man ihm für seine frühen Tanka- und Haiku-Variationen einen Preis für Neue Lyrik, auf den viele weitere auf sämtlichen Feldern seines Schaffens folgen sollten.
Das wichtigste davon war neben der Literatur, der Kritik, dem Hörspiel, und natürlich dem Kino, das Theater. TERAYAMA schrieb eine Unmenge an Stücken, die er ab 1967 mit seiner eigenen Schauspielertruppe, der Tenjô sajiki („Stehplatz Oberrang“) aufführte: Wüste Werke mit oft krassen Titeln, die mit westlicher wie japanischer Pop-Kultur spielen und im Laufe der Zeit nicht nur immer expliziter wurden, sondern sich langsam, aber heftig einen Weg durch den Zuschauerraum raus auf die Straße bahnten. Man sollte, so TERAYAMA, die Straße lesen, sie mit Theater vollschreiben und die Trennung zwischen Leben und Kunst verschwinden lassen.
In den frühen 60ern begann TERAYAMA, für die Filmindustrie zu arbeiten, als Drehbuchautor, primär für SHINODA Masahiro, dessen Frühwerk er mit seiner Faszination für Verfall und Verbrechen entscheidend mitprägte.
Mit Nekogaku („Katzenkunde“), einem vorsichtig experimentellen Kurzfilm, realisierte TERAYAMA im Jahr 1960 seinen ersten eigenen Film, wirklich ernsthaft mit dem Filmemachen begann er allerdings erst rund zehn Jahre später mit seinem ersten Meisterwerk, Tomato ketchappu kôtei (Emperor Tomato Ketchup, 1970): Eine heftige, auf so ziemlich alle Prinzipien bürgerlicher Moral rotzende Utopie von einer Welt, in der die Kinder die Erwachsenen knechten und alles tun, was man ihnen ansonsten verbietet, ein Moment, das TERAYAMA gleich in seinem Folgewerk Jan-ken sensô (Der Jan-Ken Krieg, 1970) wieder aufgriff. Bis auf wenige Ausnahmen wie die fröhliche Fingerübung Bokusâ (Boxer, 1977) sowie sein zum Kultfetisch mutierter Erotikfilm mit Klaus Kinski, Shanhai ijin shôkan (Fruits of Passion, 1980), fallen seine Werke allesamt unter die Gattungsbezeichnung Avantgardefilm.
Die drei großen Spielfilme von TERAYAMA, Sho o suteyo machi e deyô (Werft die Bücher weg, geht auf die Straße, 1971), Den'en ni shisu (Pastoral Hide and Seek, 1974) und Saraba hakobune (Lebewohl Arche, 1984), gleichen dabei eher Revuen: Ersterer erzählt eigentlich eine normale Geschichte über eine perverse Subproletarier-Familie, deren Handlung aber ständig durch revue-artige Einschübe zerstört/erleuchtet wird, letzterer ist eine Okinawa-Elegie, in der die Lebenden und die Toten einander lieben, und Den'en ni shisu spottet jeder konventionellen Definition mit seiner Abfolge poetischer Exkurse und Ekstasen, die sich zu einer emotionalen Autobiographie verdichten, um sich dann hin zu einer Ode an Aomori zu steigern.
Die Kurzfilme hingegen sind weitestgehend non-narrative Experimente zur Wesenheit des Kinos, in denen TERAYAMA an seinem großen Projekt der Subversion der Realität durch die Kunst weiterbastelte. So entstanden in dem schöpferisch fruchtbaren Jahr 1977 Werke wie Marudorôru no uta (Die Gesänge Maldorors) und Shokenki (Die Maschine zum Bücherlesen), Issunbôshi o kijutsu suru kokoromi (Versuch der Beschreibung eines Zwerges) und Nitô onna - Kage no eiga (Die Frau mit den zwei Köpfen), in denen das Kino lustvoll mit sich selber spielt. Schließlich auch das opus magnum der Autodestruktion, Keshigomu (Der Radiergummi), in dem es um das Verschwinden des Filmbilds selbst, und damit des Sinn des Kinos geht.
Olaf Möller
Alle Filme sind - soweit nicht anders vermerkt - in japanischer Sprache mit englischen Untertiteln.
Datum
02.06.2003 - 25.07.2003
Ort
Japanisches Kulturinstitut
Universitätsstraße 98
50674 Köln