Retrospektive Naruse Mikio
Retrospektive Naruse Mikio
Kein anderer Großmeister des japanischen Kinos hat eine so prekäre Position wie Naruse Mikio. Er ist zwar unbestritten einer der Gewaltigen, den alle lieben, wird aber doch nicht gleichermaßen verehrt wie andere Größen, sei es Ozu Yasujirô oder Kurosawa Akira. Der Grund mag darin liegen, dass Naruse in mancher Hinsicht als ein Gescheiterter gilt, bei dem sich die Biographie mit den Sujets seiner Filme vermischt.
Schon die Lehrjahre bei der Shôchiku verliefen für Naruse problematisch. Während andere schon nach drei oder vier Jahren vom Assistenten zum Regisseur befördert wurden, musste er rund zehn Jahre auf seine erste Chance warten, weil ihn der Studiochef nicht mochte. Obwohl die Kritik bald auf Naruses singuläres Talent aufmerksam wurde - sein achter Film, Koshiben ganbare (1931), verhalf ihm zu einem provisorischen Durchbruch -, verbesserte sich seine Situation nicht. So wechselte Naruse nach seinem 24. Film von der Shôchiku zu der neu gegründeten P.C.L., wo er gleich zum Star wurde und mit Futarizuma - Tsuma yo bara no yô ni (1935) eines der frühen Meisterwerke des heimischen Tonfilms realisierte. Der Film fand als einer der ersten japanischen Filme überhaupt im Ausland einen Vertrieb.
Naruses Filme erzählen immer wieder von Zweifelnden und Verzweifelten, oft (aber nicht nur, siehe etwa Yama no oto (1954) oder Anzukko (1958)) - von Menschen der niederen Einkommenssphären, die versuchen, allein ihr Dasein, wie provisorisch es auch immer sein mag, in den Griff zu bekommen. Es ist ein Kino der harten Zeiten und der sozialen Konflikte, die oft vehement innerhalb der eigenen vier Wände ausgefochten werden. Gewisse Konstellationen finden sich immer wieder: Angeheiratete, die an ihrem Umfeld scheitern, Paare in existentiellen Krisen, kollabierende Familien, Frauen, die sich weigern, Opfer zu werden. Naruse geht es um eine Dynamik des Zerfalls und darum, wie man aus Trümmern eine Art Leben (wieder) aufbauen kann. Ästhetisch gesehen kultivierte Naruse eine Kunst der „flüssigen Montage“. Seine Filme sind wie Ströme, mal schnell, dann plötzlich plätschern sie, verbreiten sich, Teile brechen an Steinen: da ist eine beständige Bewegung, gegenwärtig selbst in Augenblicken der Ruhe und Besinnung.
In der japanischen Filmgeschichte spricht man immer wieder von seinen Krisenphasen - die sicher nicht zufällig stets denen der japanischen Filmgeschichte und des Landes selbst entsprechen. Genialität und Konsistenz spricht man seinem Schaffen eigentlich nur in der zweiten Hälfte der 30er Jahre zu, und da auch nur bedingt, sowie dann in den 50ern, wo er von 1951 (Ginza geshô) bis 1960 (Onna ga kaidan o agaru toki) eine fast ununterbrochene Serie von Hauptwerken realisierte. Die 40er Jahre hingegen werden nahezu summarisch ignoriert, obwohl mit Tabi yakusha (1940) und Uta andon (1943), um nur zwei Beispiele zu nennen, diverse Hauptwerke aus dieser Ära stammen. Ebenso wie die 60er Jahre, obwohl Naruse bis zu seinem letzten Werk, Midaregumo (1967), auch in jener Dekade mehrere bemerkenswerte Filme inszenierte.
Am Ende spiegeln diese Einschätzungen vielleicht nur Naruses Selbstbild wieder. Er war zum Film gekommen, weil dort gerade Arbeitsplätze frei waren und er dringend einen Lebensunterhalt brauchte. Stets sah er sich als Angestellten, als Handwerker, nie wirklich als Künstler, der bloß das machte, was er wollte (auch wenn er viele seiner Filme selber schrieb und später auch einige Filme produzierte). Er projizierte nie ein ähnlich großes Selbstbewusstsein wie etwa Ozu und versuchte auch nie, sich gesellschaftlich besser zu stellen. Am Ende ging er zu seiner Arbeit und erzählte dort von Menschen und ihren Lebensumständen. Naruse, das ist auch das Drama der Bescheidenheit.
Olaf Möller
Hinweis
Den Abschluss der Reihe mit Filmen des Meisterregisseurs Naruse Mikio bildet ein Vortrag von Frau Prof. Dr. Susanne Schermann, Meiji-Universität Tôkyô.
Nähere Informationen zum Vortrag finden Sie im Archiv 2007.
Alle Filme sind im Original mit englischen Untertiteln.
Datum
02.11.2006 - 26.02.2007
Ort
Japanisches Kulturinstitut
Universitätsstraße 98
50674 Köln